Endo

Endo

Sales displays of medical hip and knee prosthesis.

Two series of b/w photographs:
Endo Displays
Endo Balls

Catherine Hug

Spillover

Keiner konnte voraussehen, welche Form die Mediatisierung der Challenger-Explosion, des Tschernobyl-Gaus oder des Angriffs auf die Twin Towers annehmen und welche Konsequenzen diese für die Weltpolitik mit sich bringen würde. Rückblickend ist man sich insgesamt auch nicht einig, ob diese Bilder die Wahrheit eher aufdecken, denunzieren oder vielmehr manipulieren. Immerhin ist man sich darüber im Klaren, dass es sich um Bilder der Macht- und Ohnmachtsrepräsentation handelt. Darum besorgt, die Verselbständigung solcher Bilder zu vermeiden, bemühen sich die Machtinhaber unterschiedlicher Politik- und Wirtschaftssektoren darum, den Ausgang katastrophaler Szenarien und die damit einhergehende Bildberichterstattung zu antizipieren. more >>

An öffentlich exponierten Veranstaltungsorten wie dem WEF in Davos, aber auch an der Zürcher Streetparade und an Sportgrossanlässen werden Massnahmen ergriffen, um die für die Öffentlichkeit gedachte Bildproduktion und -information zu beherrschen und zu steuern. Und mit dem rasanten Fortschritt der Telekommunikation, vor allem aber wegen ihrer peripheren Möglichkeiten wie das Fotografieren und Wireless-Surfen, sind Mobiltelefone vielerorts inzwischen ganz untersagt, sprich: Man macht sich bereits mit ihrer Sichtbarmachung strafbar, da ein potentiell kompromittierendes Foto hätte geschossen und aufs Netz geladen werden können. Bilder sozusagen, die am Anfang und nicht am Ende einer Medienereigniskette stehen. In Jules Spinatschs Werk kristallisiert sich ein kontinuierliches Interesse an Fragen der Machtrepräsentation und insbesondere ihrer bildnerischen Erzeugnisse heraus. Dass der so genannte Spillover-Effekt, des unbeabsichtigten Überschusses an Deutungen, aber auch deren Ausstrahlungsmöglichkeiten, ausgerechnet bei medial häufig auftauchenden Bildern generiert wird, ist logisch wie auch überraschend: Einerseits korreliert er positiv mit wachsender Bedeutung seines Herausgebers, andererseits darf man auf rezeptionsästhetischer Seite beziehungsweise beim Betrachter nicht die Hoffnung aufgeben, dass umso grösser die Leserschaft, im Prinzip auch umso gemischter und damit vielfältiger die unterschiedlichen kulturellen Backgrounds und damit auch Deutungen. Von »Global Village«1 also keine Spur: Gesinnungen, Moralismen und Nationalismen haben sich in über zwei Jahrzehnten globaler Internetvernetzung nicht angeglichen, sondern weitaus mehr fragmentiert, atomisiert. Aber wie steht es denn um Bilder, die nur ein beschränktes Publikum von Spezialisten oder interessierten Leihen erreichen? Nehmen wir hierfür Jules Spinatschs Aufnahmen aus der Endo-Serie ins Visier, wenden uns vorher aber nochmals eingehend der Definition vom Spillover-Effekt zu.

Spillover steht für das englische Wort überlaufen. Der Terminus wird häufig im Wirtschaftskontext verwendet und ist eine Bezeichnung für die in der Regel unbeabsichtigte positive oder negative Wirkung eines Instruments des Marketings, der Unternehmens- oder auch der Wirtschaftspolitik und Wirtschaftstheorie. So zieht man diesen Begriff zum Beispiel bei der Beschreibung von der Wirkung der Werbung für einen Markenartikel auf den Umsatz eines ähnlichen Konkurrenzprodukts bei. Vor diesem Hintergrund ist Jules Spinatschs Endo-Serie besonders erhellend und aussagestark, eine Werkgruppe von rund 19 mittelformatigen und drei grossformatigen Bildern, von denen erstere üblicherweise rasterförmig in zwei oder drei Reihen dicht nebeneinander gehängt sind. Von weitem betrachtet wirkt die Gruppe wie ein Kranz undefinierbarer runder Objekte, die wegen ihren teils glänzenden Flächen unseren Elsternblick ohne Schwierigkeiten enthüllen und von ihrer Beschaffenheit eine Vielfalt metallischer Oberflächen erahnen lassen. Dicht vor den Motiven stehend entzaubert und löst sich das Rätsel dennoch nicht auf, wir erkennen zwar einmal glatte, einmal körnige Texturen mit ornamentaler, kordelartiger Musterung über runde Oberflächen gespannt, die an Boccia- oder Weihnachtskugeln denken lassen, aber die eindeutige Zuordnung entzieht sich trotzdem unserem Verstand. Mit grosser Erleichterung erkennen wir dann doch, insbesondere auf den drei grösseren Formaten der Endo-Serie, da und dort eine Weihnachtskugel, einen kleinen Schlitten und eine Kerze, die etwas unbeholfen mit watteartigem Kunstschnee eingehüllt sich unter die seltsamen Objekte mischen und uns derart immerhin einen Dienst in Sachen Grössenangaben erweisen. Aber in welchem Zusammenhang mögen diese unterschiedlichen Kugeln wohl stehen? Ohne konkrete Hinweise finden es Betrachter und Leser kaum heraus, und darum sei an dieser Stelle das Geheimnis gelüftet: Wir haben es hier mit Endoprothesen beziehungsweise Implantaten zu tun: Bipolare Prothesen, Fraktur-Kugelköpfe, MPF-Pfannen, Polar Cups…2 Dies sind die Fachausdrücke für die angepriesenen Hüftgelenkprothesen. Ihre Verbreitung – vom medizinisch adäquatesten Einsatz über die Kosten bis zum Design – muss den Marktregeln und dem Verkaufsdruck genau so folgen und standhalten wie jedes andere beliebige Produkt auch. Die Marketing-Strategien sind dabei alles andere als originell: Man trifft sich und fachsimpelt auf Messen, und hat vor Ort die Möglichkeit der direkten Produktbegutachtung. Das wesentliche ästhetische Moment, das Jules Spinatsch mit der Kamera hier auffängt, scheint auch den Produktvertretern ein grosses Anliegen zu sein, da es sich schliesslich genau um die »ausgestellte« und eigens für die Besucher inszenierte Auslegeordnung von Prothesen und Implantaten handelt. Nur: Wie stellt man in der Weihnachtszeit kugelförmige Prothesen aus, die fast gleich gross sind wie Christbaumschmuck? Für die Inszenierung dieser für einen Laien unverständlichen Objekte brauchte es nicht der Erkenntnisse aus Vance Packards The Hidden Persuaders (1957), wo man aus dem Fundus inzwischen alt bewährter subliminaler und suggestiver Werbestrategien schöpfen kann: Denn bei den Prothesen geht es überhaupt erst mal darum, dass der Messebesucher seine Aufmerksamkeit auf solche Objekte lenkt und sie in einem weiteren Schritt vielleicht auch versteht. Kann man den Gegenständen aber nur mit Unverständnis begegnen, geschieht dies vor dem Hintergrund, den James Elkins in seiner treffenden und bis heute einzigartigen Analyse The Object Stares Back (1996) in der Einleitung wie folgt beschrieben hat: »Seeing is irrational, inconsistent, and undependable. It is immensely troubled, cousin to blindness and sexuality, and caught up in the threads of the unconscious. […] What is the simplest – the absolute minimum – that can be said about seeing? That the eye opens and the light comes in. What is the least that vision can accomplish, the easiest task for the eyes? It is seeing without thinking of seeing.«3 Denken wir kurz daran zurück, wie uns zumute war, als wir noch nicht wussten, was für Kugeln das waren: Wir fragten uns ununterbrochen, was das wohl sein könnte – eine Frage, der man sich besonders in einer Ausstellung nicht unbedingt entziehen möchte in Anbetracht des Wunsches nach Erkenntnisgewinn.

Eine Vielzahl der in der Kunst produzierten Bilder beruht nach wie vor auf dem Gebot der Ähnlichkeit eines Abbildes, welches bis auf die Mimesis der griechischen Mythologie zurückzuführen ist. Die Mimesis besagt, dass jenes Kunstwerk Vollkommenheit erlangt hat, welches der Realität so täuschend ähnlich sieht, dass ein Tier nicht mehr zwischen Bild und Abbild unterscheiden kann. So soll nach Plinius der Maler Zeuxis im 5. Jahrhundert vor Christus Trauben auf einem Wandbild so täuschend echt gemalt haben, dass sie von Vögeln angepickt worden sind. Für Giorgio Vasari (1511–1574), dem »Vater« der neuzeitlichen Kunstgeschichte, verkörperte Michelangelo (1475–1564) darum das absolute Ziel des künstlerischen, auf dessen Einhaltung und normative Gültigkeit sich die gegenwärtige und zukünftige Kunstproduktion verpflichten sollte, und Vasari der kunstgeschichtlichen Entwicklung an dieser Stelle historisch darum ein Ende setzen wollte. Wie wir aber mit Erleichterung feststellen durften, ist auch nach 1551 (erste Ausgabe von Vasaris Viten) reichlich Tinte in Sachen Kunstgeschichtsschreibung geflossen, und Michelangelo nicht der ultimative Massstab aller Kunst geblieben, weil man es wagte, mit dem Gebot der Mimesis zu brechen.

Obwohl er heute in vielerlei Hinsicht kritisiert werden darf, soll der Philosoph Theodor W. Adorno hinsichtlich seines Begriffs des Rätselcharakters von Kunst weiterhelfen und hier zitiert werden, weil er treffend wiedergibt, worum es in Jules Spinatschs Endo-Serie gehen könnte: »Bedingung des Rätselcharakters der Werke ist weniger ihre Irrationalität als ihre Rationalität; je planvoller sie beherrscht werden, desto mehr gewinnt er Relief. Durch Form werden sie sprachähnlich, scheinen in jedem ihrer Momente nur eines und dieses zu bekunden, und es entwischt. Alle Kunstwerke, und Kunst insgesamt, sind Rätsel […] Dass Kunstwerke etwas sagen und mit dem gleichen Atemzug es verbergen, nennt den Rätselcharakter unterm Aspekt der Sprache.«4 Etwas weniger umständlich formuliert würde das also heissen, dass ein einfacher zugängliches Kunstwerk – insbesondere Mittels Figuration und unilateralem Narrationsstrang – bis zu einem gewissen Grad entzaubert, »enträtselt« und damit weniger kunstvoll ist. Unter diesem Blickwinkel hat es die Fotografie per se nicht besonders einfach oder geniesst vielmehr einen Sonderstatus, weil die Figuration im Sinne von Abbild dem Medium inhärent ist. Die künstlerische Handschrift wird sich hier also auf Leerstellen und die Gestaltung möglichst origineller narrativer Aspekte konzentrieren. Umso bemerkenswerter also, wenn der Künstler hier mit den Gelenkprothesen ein Motiv gefunden hat, dass sich beim Betrachter jeder Vergleichsvorlage (mit Ausnahme der daneben liegenden Weihnachtskugeln) entzieht, und für narrative Interpretationskonstrukte dann doch zu viele Leerstellen offen lässt. Die Endo-Serie wirft vorerst also mehr Fragen auf, als sie beantwortet. Nun seien die Leser an dieser Stelle aber diskret daran erinnert, dass Bilder nicht allein dazu dienen sollen, uns die Weltordnung zu erklären und unser Weltbild zu bestätigen, sondern erst recht ein grosses Geschenk darstellen, wenn sie uns Türen zu neuen Welten und unerforschtem Terrain zu öffnen vermögen. In einer Zeit, wo jeder noch so kleine bis entfernte Punkt unseres Universums, von der Erbmasse bis zur Saturn-Sonde Cassini, abgebildet und erklärt zu sein scheint, ist es ein äusserst verunsicherndes und zuweilen auch befreiendes Moment, vor der Situation des Unerklärbaren zu stehen und damit auf Entdeckungsreise zu gehen.

Die Endo-Serie steht nicht ohne Zusammenhang im Werk des Davosers Jules Spinatsch, ganz im Gegenteil: Auch die Highlights International- und die Snow Management-Serien kann man unter dem Gesichtspunkt des Spillover-Effekts anschauen. Bei Highlights International hat der Künstler über einen längeren Zeitraum systematisch alle Lichterketten fotografiert, denen er im Aussenraum und insbesondere an Häuserfassaden begegnet ist. Durch Unterbelichtung beziehungsweise die nächtlichen Lichtverhältnisse, unter denen die glühenden Ketten üblicherweise anzutreffen sind, wird der Träger des Lichtschmucks verdrängt. Der ursprüngliche Kontext wird dem Betrachter also verwehrt, oder positiv formuliert bleibt es diesem offen, ihn selber herzuleiten oder gar zu konstruieren. Paradoxerweise verdichtet sich hier also eine Fülle von Interpretation, gerade dort, wo der Bildgrund, -träger oder -kontext verdunkelt oder weggelassen wird und das Motiv sich in einen Dunst des Geheimnisvollen, Rätselhaften hüllt. Bei Snow Management untersucht Spinatsch zudem seit nunmehr fünf Jahren die unterschiedlichsten Facetten des von Menschenhand gestalteten Alpenraums. Die Optimierung von Pistenverhältnissen, der maschinelle Aufwand bei Grossevents in Schnee und Eis, die logistischen Massnahmen zur Meisterung von Menschenaufläufen in diesen fragilen Mikroklimas – all dem geht Spinatsch mit einem diszipliniert und scharf beobachtenden sowie an strukturellen Eigenheiten interessierten Blick nach. Von der Etymologie des Wortes Management versteht man allgemein »an der Hand führen« oder »im Griff« haben. Betrachtet man Hüftgelenkprothesen und ähnliche Implantate nun mit dem Wissen, dass sie auf Spinatschs Bilder bei einer Fachmesse im alpinen Raum angepriesen werden, stellen sie auf der Ebene des gestalteten menschlichen Körpers im Zusammenhang mit Wintersport wohl ein äusserstes Extrem von dem dar, was in Sachen Einklang zwischen Wintersport und defizitärer Gesundheit im Moment gemacht werden kann. »The world is full of things that we do not see, and when we begin to notice them, we also notice how little we can ever see. Scientific images show that best […] A psychoanalyst might say that we need to believe that vision is a one-way street and that objects are just the passive recipients of our gaze in order to maintain the conviction that we are in control of our vision and ourselves.«5 Bei allen Bemühungen der »Snow Manager« zeigt die Endo-Serie poetisch auf, dass es einen Restfaktor an unbestimmbarer, überfliessender Bildproduktion gibt, welche sich nicht sobald ohne Weiteres beherrschen lassen wird. Offensichtlich gelingt es nicht allein den Mächtigen, sondern auch den Ohnmächtigen, Macht und Einfluss auf Bilder auszuüben.

 

  1. Vgl. dazu: Marshall McLuhan, War and Peace in the Global Village, New York 1968.
  2. Für Betrachter, die lange am Sinn von Werktiteln rumgrübeln, dürfte aufgefallen sein, dass das Präfix »Endo« vom Griechischen »Innen« stammt und darum einen weiterführenden Hinweis bieten könnte. Nichtsdestotrotz dürften Prothesen den meisten bei ihrer äusseren und weniger bei ihrer inneren Anwendung bekannt sein – es sei denn, man trägt selbst eine oder ist vom Fach.
  3. James Elkins, The Object Stares Back, San Diego / New York / London 1996, S. 11, 18. Elkins lehrt unter anderem an der School of the Art Institute of Chicago.
  4. Theodor W Adorno, Ästhetische Theorie, Frankfurt a. M. 1998 (1 1970), S. 182.