Resselpark – Karlsplatz, Wien 29. Juli 2010
etwas ist falsch an diesem rundpanorama von jules spinatsch. der besucher steht nicht in der mitte, wie bei den panoramen, die im 19. jahrhundert in die europäischen städte einzug hielten, oder wie beim bauernkriegspanorama in bad fankenhausen, für das der damalige kulturminister der ddr im sowjetischen textilkombinat sursk eine leinwand von 123 metern länge und 14 metern breite bestellt hatte, die dann zwischen zwei stahlringen aufgespannt und vom leipziger maler und kunstprofessor werner tübke mit ca. 3000 figuren bemalt wurde. solche panoramen hatten etwas monumentales. sie stellten gewonnene schlachten dar, oder, wie im fall von werner tübke, die renaissancezeit mit all ihren unruhen, aufbrüchen und den beginnenden glaubenskämpfen der moderne. als zuschauer war man in diesen panoramen gleichsam gefangen. es gab nur noch das zu sehen, was das panorama darstellte. die außenwelt war ausgesperrt. die einzige gegenwart, die zugelassen wurde, war die des betrachtenden menschen. und der stand im zentrum. continue reading >>
beim panorama von jules spinatsch müssen die betrachter außen herumlaufen. diese wanderungen des publikums im kreis erinnern ein wenig an sakrale rituale. an priester und ministranten, die mit weihrauchfässern den altar umrunden, an allerheiligenprozessionen um die kirche, an die regenbogenparade um die ringstraße, oder auch nur an das ponyreiten am wiener christkindlmarkt. aber das, was hier von mehr oder weniger kunstsinnigen betrachtern umkreist wird, ist kein einschneidendes geschichtliches ereignis, es hat nichts mit gesellschaftlichen aufbrüchen und auch nichts mit spirituellen traditionen zu tun. in der mitte ist nur eine technische hilfskonstruktion, die dazu dient, den sich über 30 meter erstreckenden momentaufnahmen des wiener opernballs eine stütze zu sein.jules spinatsch lässt die karlsplatz-besucher um den tempel der österreichischen seitenblickegesellschaft tanzen. das ganze gleicht einer reinszenierung des barocken vanitas-motivs. die zur schau gestellte eitelkeit schlägt um in nichtigkeit und leeren schein. das ponyreiten auf dem christkindlmarkt macht den kindern spass, auch wenn sie nur strohballen umrunden. aber hier, beim rundpanorama von jules spinatsch, läuft man nicht des spasses wegen im kreis, sondern gleichsam um der strohballen willen. und das lädt die strohballen mit bedeutung auf. die hihi-und-haha-kultur der mediengesellschaft, die landauf und landab als traumbild des schönen lebens in die privathaushalte geliefert wird, verdichtet sich zur bildskulptur im öffentlichen raum.die inszenierung dieser bildskulptur folgt einem anderen code als die inszenierung des opernballs. man sieht auf dem panorama die fernsehkameras, man sieht die mikrofone, man sieht die society-reporter bei der arbeit, man sieht, dass der gesamte opernraum in ein großes unterhaltungsstudio umgestaltet wurde. es ist eine meta-inszenierung. und darum vermag sie auch nicht das ewige lächeln und lachen wiederzugeben, das zum markenzeichen der society-reportage wurde, sondern sie folgt dem sturen rhythmus einer programmierten überwachungskamera, die 17352 mal alle drei sekunden ein bild schießt und dabei das gesamte interieur der wiener staatsoper streifen für streifen eine ganze nacht hindurch zweimal abtastet. das dabei entstandene gesamtbild unterscheidet sich aus der ferne nicht von den opernballbildern, die wir kennen. tritt man jedoch näher, wird der unterschied deutlich. das inszenierte lächeln wird zum gefrorenen lächeln, die inszenierte fröhlichkeit versteinert.
würden wir wie bei den alten panoramen drinnen stehen und um uns herum den innenraum der staatsoper in dieser raffinierten verschränkung von räumlicher und zeitlicher abfolge auf einer runden wand abgelichtet sehen, wir wären wohl ein bisschen enttäuscht und würden uns fragen, warum nicht gleich eine million bilder und das ganze in den echten proportionen des opernballs, damit der faymann genauso groß aussieht wie der wirkliche bundeskanzler und in genau der gleichen entfernung zu sehen ist, wie ich ihn tatsächlich sehen würde, wenn ich in der staatsoper auf einem luster hinge und aus dieser obersten spionageposition einem glücklosen regierungschef ins stübchen schaute.aber wir zuschauer, zuhörer und eröffnungsredner hängen nicht am nachkriegsprunkluster des wiener opernballs 2009, sondern wir gehen am karlsplatz spazieren und stoßen dabei auf eine bildskulptur, bei der die innenraumperspektive des opernballs exhibitionistisch nach außen gestülpt ist. menschen in frack und abendkleid, die in die gegenüberliegende loge oder aufs tanzparkett schauten, schauen nun die henry-moore-statue an, vielleicht auch nur ein gebüsch oder einen hund, der an eine laterne pinkelt. wir sind zwar diejenigen, die um einen leeren zylinder herumlaufen und dabei der auf ihm abgebildeten eitelkeit eine gewisse bedeutsamkeit verschaffen, aber gleichzeitig sind wir diejenigen, denen das bild beim nähertreten in eine andere perspektive kippt. die wichtigste aktivität der menschen am wiener opernball scheint darin zu bestehen, mit einer kleinen kamera oder einem handy festzuhalten, dass sie auf dem opernball sind. solche details sind es letztlich, die den unterschied machen. das panorama setzt sich aus bildern zusammen, die gleichsam hinterrücks aufgenommen wurden, auf die sich niemand einstellen konnte.
ein bild wie das von der frau mit roter halskette, die auf ihr handy blickt, als könnte sie nur noch dort finden, was sie auf dem opernball gesucht hat, macht freilich denjenigen, der dieses bild durch eine überwachungskamera aufnehmen ließ und an die medien verschickt, zu einem teil der gesamtinszenierung des opernballs. und natürlich auch denjenigen, der sich bereit erklärt, dazu eröffnungsworte zu sprechen. so wie einst richard lugner im fernsehen stolz darauf verwies, dass er den roman opernball im regal stehen habe, so kann nun auch die wien-ist-anders-werbung uns vorschwelgen, wie bedeutend ein ereignis wie der opernball sein muss, wenn es schon wieder zum thema der kunst wurde. und der kreationistischen propagandaabteilung des wiener kardinals bietet dieses rundpanorama die möglichkeit, den wiener opernball in den kirchenzeitungen so abbilden zu lassen, dass er von der karlskirche überragt wird.
in meinem roman bringt ein fernsehregisseur einen monat damit zu, das aufgenommene videomaterial des opernballs durchzusehen. er weiß, wonach er sucht. er will hinweise auf die hintergründe des terroranschlags finden und er sucht die letzten bilder vom leben seines sohnes. aber wir hier, die wir um dieses panorama herumwandern und gelegentlich ganz nahe herantreten, um stichproben in großaufnahme zu nehmen, wonach suchen wir eigentlich? immerhin haben wir es mit dem material von zwei überwachungskameras zu tun, einer für den bühnenraum und einer für den zuschauerraum. wir gleichen detektiven, die den opernball, als wäre er eine drei meter breite filmrolle durch ihre finger gleiten lassen und bild für bild nach verdächtigem material absuchen. wir kommen uns freilich ein wenig hilflos vor angesichts dieses großaufgebots an verdächtigem.
vor allem wäre da noch eine frage zu kären. sind diejenigen verdächtig, die auf dem bild sind, oder die ballbesucher, die nicht auf dem bild sind? selbst eine durchgehende überwachungspräsenz am opernball mit einer ausbeute von mehr als 17000 bildern, vermag nämlich nur einen ganz kleinen ausschnitt der wirklichkeit festzuhalten. trotz der systematik einer doppelten ablichtung aller im opernraum sichtbaren gegenstände und personen, blieb es letztlich dem zufall überlassen, ob eine person erfasst wurde oder nicht.
bei jedem einzelbild dieses panoramas darf man sich vorstellen, dass alles, was in den vergangenen und in den folgenden vier stunden an dieser stelle stattfand, nicht aufgenommen wurde. die besucher des wiener opernballs 2009 hatten also eine gute chance, dem überwachungssystem von jules spinatsch zu entkommen. freilich nur dann, wenn sie sich bewegten. allerdings wuchs dann auch die gefahr, umso ausführlicher erfasst zu werden.
interessant wäre zu wissen, wie das gesamtbild aussehen würde, wenn der jeweils abgebildete ausschnitt durch lichtbalken markiert worden wäre und die leute gewusst hätten, dass ein schweizer medien-künstler sie gerade für ein panorama fotografiert, das später am karlsplatz ausgestellt werden wird. vermutlich wären auf dem panorama viel mehr menschen zu sehen als in wirklichkeit am opernball waren. jedenfalls wäre es eine mögliche strategie, jules spinatsch mit seiner medienkunst zum stammgast jenes balls zu machen, den die wiener, wie es reich-ranicki einst formulierte, für ein bedeutendes ereignis halten.
Josef Haslinger ist Autor des Polit-Thrillers „Opernball“ 1995 und des Films „Opernball – die Opfer / die Täter“ 1998.