«Triangulation»
Claudia Keller und Bärbel Küster zu den Bild-Sequenzen von Jules Spinatsch
Für den vorliegenden Band gestundete Zeit – 100 Jahre Hans Josephsohn hat Jules Spinatsch eine dreiteilige Fotoarbeit geschaffen, in dem er sich Josephsohns Plastiken in öffentlichen Räumen annähert. Spinatsch setzt sich für seine Arbeiten feste Settings, innerhalb derer er die visuellen Möglichkeiten auslotet – in diesem Fall ist es zunächst das Medium Buch, das die Präsentation seiner Fotografie auf eine Abfolge auf papierenen Seiten festlegt. Das Blättern ergibt eine zeitliche Abfolge des Sehens: Sei es, wie Spinatsch sagt, ein übliches Vorwärts-Blättern im Zickzack, bei der die aufgeschlagene Seite noch vor der Verso-Seite sichtbar wird, sei es ein Rückwärts- oder Hin- und Her-Blättern. Die Abfolge der Bilder entsteht mit der Tätigkeit des Betrachtens, sie hat ihre eigene Sequenz und Zeitlichkeit.
Zum Setting gehört für Spinatsch aber auch, dass seine Fotografien durch die Publikation Teil eines öffentlichen Bildgedächtnisses werden. Am Anfang seiner Beschäftigung mit Josephsohn stand eine Analyse der bereits existierenden Bilder von Josephsohns Skulpturen. Da sind zunächst die nüchternen visuellen Dokumentationen der Plastiken, wie sie vom Kesselhaus Josephsohn oder in Ausstellungskatalogen verwendet werden. Ebenso prägend waren die Aufnahmen der Werke im Atelier, teilweise noch im Entstehungsprozess und manchmal mit dem Künstler im Bild. Ob vermeintlich neutral oder als Teil des Mythos des Ateliers – Plastiken und dreidimensionale Objekte können niemals 1:1 in eine Fotografie übersetzt werden, ein nicht-interpretierender Blick auf eine Skulptur ist eine Illusion. Jules Spinatsch hat diese Bilderwelt um eine Schicht erweitert: Er wählte eine andere Art von Illusion und einen anderen Zugang zu den Skulpturen des von ihm geschätzten Bildhauers. Er setzt die Kamera nicht als Autorität einer wahrheitsgemässen Aufzeichnung dessen ein, was durch die Linse zu sehen ist. Tatsächlich identifiziert er sich und seinen Blick nicht mit seiner Kamera. Vielmehr produziert er mit den Mitteln der Belichtung und Beleuchtung Spuren der Wahrnehmung, wie sie nur im Apparat entstehen können. Wie bereits in zahlreichen anderen Arbeiten hat er auch im vorliegenden Foto-Essay eine operative Versuchsanordnung vorgenommen: Die geteilte Autorschaft der Bildproduktion wird als ein gleichseitiges Dreieck zwischen Kamera, Objekt – das metonymisch für Josephsohn selbst steht – und ihm selbst gedacht. So entsteht eine erste «Triangulation».
Die vor ihm befindlichen Objekte sollen die gleiche Bedeutung haben wie die Kamera und seine eigene Wahrnehmung: Die Skulpturen von Hans Josephsohn werden in diesem Setting zu Akteuren, die ebenso wie die Kamera und der Fotograf agieren. In dieser Versuchsanordnung werden je nach Serie natürliches, künstliches Licht und Langzeitbelichtungen ebenso eingesetzt wie Kamerabewegungen und Standortwechsel; eine nachträgliche Bildbearbeitung findet nicht statt. Diese Fotografien sind nur im gewählten apparativen Setting möglich – Bilder, die «man zu machen sich nicht unbedingt vorstellen kann», wie Spinatsch es formuliert. Und dennoch erfassen sie wesentliche Momente der Josephsohn’schen Skulpturen. Jules Spinatsch hat in der Vorbereitung der Serien unterschiedliche Werke von Josephsohn besucht. Dabei ist es kein Zufall, dass er – abgesehen vom Bild auf dem Cover – keine Reliefs ausgewählt hat. Reliefs sind durch den Bezug zur Wand bildhaft-zweidimensional. Dadurch dass man nicht um sie herumgehen kann, lenken und bestimmen sie den Blick viel stärker. Spinatsch interessiert jedoch, was durch die Reduktion von einem dreidimensionalen Objekt in die Zweidimensionalität geschieht, die Auswahl und Transformation implizieren für ihn auch eine inhaltliche Verdichtung. Mit der dargelegten Versuchsanordnung hat Spinatsch die Bilder der Fotografien ebenso erfunden wie gefunden und eine Auswahl davon in den Fluss des Buches gebracht. Die Sequenzen funktionieren für ihn jedoch nicht in einer sprachlich-fassbaren Erzählung, sondern als Aufforderung zum Sehen. Sie sind zu drei Serien gruppiert – eine weitere Triangulation –, dabei können Josephsohns Plastiken in der Versuchsanordnung sowohl einen Ausgangspunkt für die Vermessung bilden, wie auch an die Stelle eines unerschlossenen, unbekannten Raumes rücken: Aus drei unterschiedlichen Perspektiven betrachtet, dem Landvermessungsverfahren vergleichbar, ergeben sich so für Spinatsch jeweils neu konstruierbare Objekt-Räume.
Die Plastiken, die Spinatsch für den Foto-Essay fotografiert hat, befinden sich fast ausnahmslos in öffentlichen Räumen – allen zugänglich sind sie am frühen Morgen zu sehen, und sie stehen noch, wenn man nachts an ihnen vorbeigeht. Der Umraum von Josephsohns Plastiken ist mal städtisch und laut, im Park oder der Friedhofsanlage hingegen stehen sie still, am Morgen vom Tau noch feucht mit glänzender Oberfläche. Sie sind in historische Architekturen eingefügt oder werden zu einem wesentlichen Teil der Gestaltung einer Neubebauung. Die Präsenz jeder Plastik hängt vom Raum ab, der ihr eingeräumt wird, und den physischen Bedingungen, denen sie ausgesetzt ist. Der Umraum ebenso wie Wetter- und Lichtverhältnisse, temporäre Ereignisse am Standort oder eben der Wandel des Grüns um sie herum aktualisieren ihre Wirkung in der Zeit. Die permanente Sichtbarkeit, die die Plastiken in öffentlichen Räumen erhalten, macht zugleich ihre Wandelbarkeit aus – abhängig von den Jahres- und Tageszeiten und von den Menschen, die sie mit ihren Blicken streifen. Jules Spinatsch schliesst diese Umräume der Plastiken in den Bildserien aktiv aus: In der Versuchsanordnung kommen kaum räumliche Koordinaten zum Zuge, stattdessen geschieht eine visuelle Annäherung, die wie mehrfach nachgreifend die Materie und materielle Wirkung der Plastiken einzufangen versucht und die mit jedem Foto eine Vielzahl von Blicken wirft, ohne je die dokumentarische Schärfe zu suchen.
Die drei Bildstrecken operieren teils mit Nahaufnahmen und verursachen bei uns einen Verlust des eigenen Standortes ebenso wie der Orientierung. Nicht an die Betrachter*innen zu denken ist ein Verfahren, das sich Jules Spinatsch von Josephsohn abgeschaut hat – es gewährt eine Offenheit und Freiheit, für beide Seiten. Die Umräume der Plastiken treten zurück, den Betrachtenden wird zugemutet, sich auf das Sehen und auf die persönlichen Erinnerungen früherer Begegnungen mit Josephsohns Plastiken (oder Bildern von ihnen) zu verlassen. Mit dem aufgegebenen Überblick über das ganze Objekt geht es auch im fotografischen Bild nicht mehr um konkret Erzählerisches, das bereits in Josephsohns Werk, trotz des Festhaltens an der figürlichen Darstellung, sehr zurückgenommen ist. Der Beitrag von Seraina Renz im vorliegenden Band argumentiert, dass Erzählung bei Josephsohn vielmehr über Evokationen, Konstellationen und Leerstellen getragen wird als über konkrete Abläufe. Visuell verhält es sich bei Jules Spinatschs Bildstrecken ähnlich: An die Stelle des visuellen Erkennens tritt eine Auseinandersetzung mit Momenten des Sehens. Das Auge folgt imaginär einer Kamera, die beginnt, die Oberflächen und die Körper abzutasten. Vorstellung und Phantasie füllen die Stellen des Ungefähren und die Leerstellen mit eigenen Erzählungen. Alle drei Serien sind von Unschärfen, besonderen Lichtverhältnissen und Bildzonen des Nicht-Erkennen-Könnens geprägt: Sie konfrontieren uns beim Blättern mit dem Unterschied von Sehen und Erkennen, und sie öffnen zugleich Räume und Abläufe der Imagination.
Michel Frizot beschrieb die gestaltende plastische Macht der fotografischen Geste («pouvoir sculpturisant du geste photographique»), um zu verdeutlichen, wie Fotografien mit Licht allein Raum und Volumen schaffen und Objekte festhalten, welche als Raumkörper in ihrer Bewegung nicht statisch sind. Ob mit natürlichem oder gesetztem Licht können Fotografien ephemere Phänomene wie plastische Elemente im Raum erscheinen lassen und sie durch die Rahmung des Kamera-Ausschnittes zu einem Abbild und Dauerhaftigkeit emanzipieren. Jules Spinatschs Fotografien bewirken das Gegenteil: Er verlangt den bereits existierenden Skulpturen eine eigene fotografische Geste des Plastischen ab. Mit ihr werden die in den öffentlichen Räumen dauerhaft präsenten, in sich ruhenden Liegenden und Halbfiguren Josephsohns in ihrer Zeitlichkeit erfahrbar, sie werden zu Erscheinungen in unserer Vorstellung und Erinnerung.
Und hierfür ist es dann doch von Interesse, dass Spinatsch Josephsohns Plastiken in öffentlichen Räumen fotografiert. Ihre ständige Zugänglichkeit jenseits musealer Öffnungszeiten und ihre Veränderungen in Witterung und Licht ermöglichen dem Bildgedächtnis eine Öffnung: Weniger die dauerhaft-monumentale Präsenz der Plastiken im öffentlichen Raum rückt in den Blick, als dass erfahrbar wird, wie sich die Plastiken in ihrer Umgebung stets wandeln und verwandeln. Es ist kein auf museale Überzeitlichkeit gerichteter Blick, sondern einer, der die aufscheinenden und wieder verschwindenden Augenblicke fokussiert, der die Zeit der Umwelt wahrnimmt. Der im Aussenraum mögliche Zufall ist auch eine Erfahrung besonderer Zeitlichkeit: Einsetzender Regen oder Spuren von Nässe als in die Mulden zurückgezogene Rückstände können die Plastiken ebenso verändern wie die Lichtverhältnisse. Der Fokus auf die Details ist wie ein fotografischer Umkehrschluss der Verfügbarkeit der Objekte in öffentlichen Räumen. So treten die physisch höchst präsenten Volumen von Josephsohns Plastiken in den ausschnitthaften Fotografien ebenso hervor, wie die Unschärfen der Oberfläche und die Zonen des Ungefähren der Darstellung. Die Entleerung von der Narration geht mit einer Aufforderung zur Imagination und zum Sehen einher. Die apparative Versuchsanordnung von Spinatsch bewirkt, dass beim Betrachten dieser Fotografien ein Teil der Realisierung der Figur unserem individuellen Blick überantwortet wird.
Die erste Bildstrecke Triangulation A. Schöntal führt Bewegungen während der Belichtung um das plastische Objekt herum aus, denen wir beim Blättern und Blicken eine weitere zeitliche Ebene hinzufügen. Im Heran- und Zurücktreten der Kamera sowie durch verlängerte Belichtungszeit werden verschiedene zeitliche Momente und damit auch Realisierungsformen der Plastiken übereinander gelagert und auch die Volumen des Objektes geraten in Bewegung. In einigen der Fotografien wird der Blick in die schwarze Fläche der schattenhaften Objekte entlassen und endet auf der schwarz-bedruckten Oberfläche der Papierseiten des Buches. Die, wenn auch nie eindeutig gezeichnete, Kontur tritt hervor, feste Umrisse werden verschleiert und Spiegelungseffekte erzeugt. In anderen Bildern entstehen die Massen genau dort, wo durch die Bewegung der Kamera von den Bewegungen in der Oberfläche der Plastiken abstrahiert wird. In beiden Fällen ist der Blick ist nicht fokussiert, sondern nachfassend: «Un-seeing» wäre im Englischen der Begriff, mit dem diese Art synästhetische, nicht an Begriff und Benennung ausgerichtete Form der Wahrnehmung bezeichnet werden könnte, für die Zeitlichkeit von zentraler Bedeutung ist.
In der Abfolge der Fotografien schleichen sich angedeutete Farben ein, ein Sockel, ein Innenhof wird sichtbar und doch entgleitet dem Blick das Objekt immer wieder in Schwärze und Unschärfen – keine der Fotografien will die Objekte im dokumentarischen Sinne fassen. Im Spiel zwischen Materialisierung und Dematerialisierung vermittelt die Reaktion der Kamera Grösse und physische Kraft der Plastik auf diese Weise jedoch umso mehr.
Die zweite Bildstrecke Triangulation B. Tannenrauch zeigt den Ausschnitt des Kopfes einer Liegenden. In der Wiederholung der leichten Aufsicht bei gleichzeitig zunehmendem Sehverlust – das Gesicht entmaterialisiert sich zusehends und verändert fortlaufend seinen Ausdruck –, behandelt das Setting hier zum einen ein zeitliches Moment im Œuvre des Künstlers: In den Fotografien entsteht ein Zeitsprung im Werk, denn die Liegende von 1971 weist in dieser Form der fotografischen Darstellung bereits auf die späten Porträtköpfe Josephsohns voraus, in denen Münder, Nasen und Ohren in den plastischen Massen nur noch angedeutet sind. Indem hier die Zeitlichkeit der Umgebung, sichtbar in der sich durch den Regen verändernden Oberfläche, mit der Zeitlichkeit der Wahrnehmung verschränkt wird, findet eine Aktualisierung der Prozessualität von Josephsohns Arbeitsweise im Blick der Betrachter*innen statt. Zum anderen erscheint die Materialität der Messingplastik in den Fotografien in den verwitterten Stein einer Granitstatue im Park verwandelt, die schon Jahrhunderte überdauert hat. Zahlreiche Assoziationen stellen sich ein und Spinatsch interessiert genau diese Verschiebung zu einem kreativen Sehen, mit dem man schaut, ohne bereits zu wissen. Josephsohns Plastiken fordern das in besonderem Maße ein. Ihre Wahrnehmung durch die Betrachtenden, das zeigen im vorliegenden Band die Beiträge von Claudia Keller und Bärbel Küster, erweist sich als äusserst abhängig von Lichtsituationen, Tageszeiten, Handhabungen. Insofern erfasst die Serie Tannenrauch und der Zugang des Fotografen in der triangulären Anordnung ein zentrales Moment nicht nur der Rezeption der Plastiken von Josephsohn, sondern auch der Produktion: Mit der Abhängigkeit von Wahrnehmungssituationen kann man auch die Unschärfen in Josephsohns Auffassung von figürlicher Darstellung begreifen.
Die dritte Bildstrecke Triangulation C. Metasohn ändert die Voraussetzungen des Settings. Sie besteht aus Aufnahmen verschiedener Werke, die nicht einzeln benannt werden, wodurch besonders evident wird, dass das Verfahren der Triangulation zu Meta-Bildern der Skulpturen führen. Eingesetzte Blitzlichter holen aus den dunkel patinierten Messing-Oberflächen, die in der Nacht das letzte Licht absorbieren, Landschaften des Materials hervor. Es sind Ausschnitte aus den «unfassbaren» Volumen der Werke, die nun eigene Formen produzieren – für die Betrachtenden entsteht, bevor die Evokation einer Figuration einsetzt, ein Moment des Innehaltens, das den Blick in der Schwebe belässt. Erst nachträglich in der Imagination entstehen Vorstellungen von Torsi, Gliedmassen und Gesichtern. An Mikro-Formen entlang formen die Fotografien eine plastische Wirkung, die sich, wie auch der Beitrag von Magdalena Bushart zeigt, auf den Oberflächen als eine Art eigener abstrakter Bild-Erzählung entwickelt.
Die Fotografien von Jules Spinatschs Foto-Essay evozieren jenen Zwischenraum des Erkennens, Zeigens, Verbergens und Verschwindens von Josephsohns Figuren, mit dem wir konfrontiert sind, wenn wir den gleichermassen konkreten wie opaken Massen der Oberflächen gegenüberstehen, in denen eine verborgene Figur erkennbar ist, die unter der Hülle ihres Materials lebendig zu pulsieren scheint. Die Fotografien seiner Serien versteht Spinatsch vor dem Hintergrund einer eingeschränkten indexikalischen Bildauffassung als Forschung am Bild. Sie aktualisieren Josephsohns Werk, indem sie das Potential figürlicher Darstellungen eröffnen, die in der Verweigerung des Naturalismus zugleich auf eine imaginative Kraft des Plastischen setzen. In besonderem Masse können öffentliche Räumen draussen solche Imaginationen ermöglichen, weil das öffentliche Bildgedächtnis hier seine losen Enden hat – Enden, die jede*r Vorbeigehende aufgreifen kann.