Hintercontinental Blackbox

Nachwort zum Bild-Essay Hintercontinental Blackbox von Jules Spinatsch – Thomas Spielmann in Davos – zwischen Bergzauber und Zauberberg Kurort, Sportort, Kongress- und Forschungsplatz, 1865–2015, Verlag NZZ Libro

«Neugier und Fortschritt brauchen den Blick hinter die Bühne»

Es gibt Menschen, die die Bildserien von Jules Spinatsch nicht mögen. Gut – es soll ja auch Menschen geben, denen die Lieder eines Hansi Hinterseer die Herzen erwärmen. Weil sie Harmonie, Behaglichkeit, Zufriedenheit verheissen. Selbstzufriedenheit, Saturiertheit vielleicht. Ein glückliches, sicher aber ein im Wortsinn konservatives, weil konservierendes Lebensgefühl, dem das Wichtigste fehlt, was Menschen weiterbringt: die Neugier.
Spinatsch hat seit jeher statt Behaglichkeit, statt «comfort», den «discomfort» gewählt – zumindest das zeitweilige, vorübergehende, temporäre Unbehagen.
Ernst Ludwig Kirchner war ein klassischer Vertreter des deutschen Expressionismus, einer Kunstform also, die sich nicht der Sachlichkeit verschrieb, sondern der Widergabe dessen, was der Kunstschaffende empfindet und ausdrücken will. Diese Unausgewogenheit, «Dis-Balance» schuf sich bei Kirchner Raum in der Darstellung von erotisierenden Nackten im Bergbach inmitten der unberührten Prüderie der gesellschaftlichen Natur des Landwassertales.
Sexualität ist ein knappes Jahrhundert nach Kirchner gesellschaftlich vereinnahmt, kommerzialisiert. Durch diese «Ver-Nina-Hagenisierung» hat die Sexualität – jahrhundertelang die Triebfeder für kulturelles Schaffen schlechthin – ihre exzessive, explosive und expressive Kraft eingebüsst und ihren Wert als Versinnbildlichung von Unausgewogenheit, Diskrepanz, Leidenschaft, Ungerechtigkeit verloren. Darum vielleicht ist der Expressionismus von Jules Spinatsch eher ein Wut-Expressionismus.
Nicht mit Gier, sondern mit Neugier hat Spinatsch seit Anfang der Nuller-Jahre die «Dis-Balance» zwischen heiler Bergwelt und deren touristischer Erschliessung beobachtet, den Einzug des WEF und die Folgen der Globalisierung dokumentiert und untertreibend als «temporary discomfort» bezeichnet. Visionär, denn heute befällt uns beim Begriff Globalisierung eher ein «enduring discomfort».
Spinatsch‘ fotografischer Blick hinter die weltumspannende mag für Einige provozierend und kontrovers sein, andere schätzen gerade diese Konfrontation der verschiedenen Bildserien in diesem Essay. Jules Spinatschs Blick dokumentiert hautnah eine Welt, wie es sie auch in Davos gibt, abseits der weissen Hügel und mondänen Hotellobbies.

Spinatsch konfrontiert fünf verschiedenen Manifestationen in Davos und jede verweist gleichzeitig auf die Welt ausserhalb von Davos:

– Hotels als exotische Länderpavillions verkleidet – Mexico, Malaysia.

– Bild Collagen von Flüchtlings-Kindern aus Krisengebieten.

– Collagen von Thomas Hirschhorn mit Bildern aus Krisen- und Wohlstandgebieten: Gewalt und Luxus cooexistiert.

– Stummer, vergänglicher Protest in Eis vor dem Rathaus, für oder gegen was ist nicht ersichtlich.

– Das Punkkonzert liefert den Soundtrack zur Energie-Entladung der jungen Körper, die als eine Form des Protests verstanden werden kann.

– Ein totalitärer Staat okkupiert den öffentlichen Bus zur Image Aufbesserung, um letztlich Investoren anzuwerben, und um den Benutzern des Buses gleichzeitig die Sicht zu nehmen.

Mit seiner fotografischen Referenz an Thomas Hirschhorn – einen anderen Davoser Künstler – zeigt Spinatsch, dass er mit seinem neugierig-unverstellten Blick «dahinter» nicht allein ist.
Doch während Spinatsch die Welt durch den Sucher seiner Kamera erkundet und diese Suche dokumentiert, provoziert Hirschhorn in seiner typischen Collagen-Kunst.
Im Gegensatz zu den Melodien und Texten von Schlagersängern, die – zurückhaltend formuliert – problemlos intuitiv erfassbar sind, fehlen uns zuweilen die Mittel, vielleicht auch nur die Übung, Bilder und Objekte lesen zu können und zu verstehen. Mit dem Resultat, dass wir sie ignorieren oder gar – Stichwort: Hirschhorn Ausstellung im Centre culturel Suisse in Paris 20XX – hilflos verunglimpfen.
Abgesehen davon, dass es gar nicht zwingend nötig ist, die Bilder eines Künstlers zu «verstehen» – Hauptsache, sie inspirieren uns, lassen uns in Müssiggang verfallen und stundenlang assoziierend vor uns hin träumen – sind die Menschen hier in Davos in einer privilegierten Situation: Während andernorts die Schüler und Erwachsenen mit Sport- und Basteltagen zu Aktivitäten ausserhalb von Schule und Alltag angeregt werden, pflegt Davos den Kulturtag. Denn auch «Kultur» kann und muss gelernt werden: Denn Kultur ist nicht selbsterklärend wie einige meinen, so wenig wie man Skifahren von blossem Zuschauen lernt.
Wir investieren Zeit und Geld in Skipisten und Skilehrer, Tennisplätze und Tennislehrer. Davos hat Ende der 80er Jahre den umgekehrten Weg versucht: die ehemaligen Tennisplätze des Hotels «Belvédère» wurden dem Kirchner-Museum «geopfert». Sport musste Kultur weichen. Ein weiser, vielversprechender Anfang, den es durch die Auseinandersetzung mit Kunst und Kultur zu pflegen und zu kultivieren gilt. Auch mit ungewohnter, nicht mundgerechter Kultur.
Denn es wird immer klarer, dass die Konfrontation mit Kunst und Kultur einen «Mehrwert» im Leben eines jeden Menschen darstellen, dessen Wert sich nicht messen lässt, weil er gerade in seiner – scheinbaren – Wertlosigkeit besteht.

Zum Buch

Es war am 8. Februar 1865: Gegen Abend trafen zwei geheimnisvolle Reisende in Davos ein. Mitten im Winter auf einem offenen Pferdeschlitten. Die Einheimischen waren verblüfft. Was wollten die zwei Unbekannten ausgerechnet im armen, kargen Hochtal? Was führten sie im Schilde? Zur Sicherheit wurde eine Depesche an die Polizei nach Chur geschickt. Es stellte sich heraus, dass die zwei Fremden – ein Arzt und ein Buchhändler – gelesen hatten, Davos müsse ein «immuner Ort» sein, ein Ort, der ihre Tuberkulose heilen würde. Fortan lagen die zwei Fremden Tag für Tag draussen im Winterwetter. Als der Frühling kam, fühlten sie sich gesund. Und so wurde das Datum ihrer Ankunft zur Geburtsstunde des Kurorts Davos, ja des Wintersports schlechthin. Ein Ort, der sich in 150 Jahren immer wieder neu erfinden musste, vom Kur- zum Sportort wurde und sich später zum international angesehenen Forschungs- und Kongressort entwickelte. Die zahlreichen Besucher – weitherum bekannte Grössen wie Ernst Ludwig Kirchner, Alexander Spengler, Arthur Conan Doyle oder auch Prinz Charles – prägten und prägen das kulturelle Leben der Gemeinde Davos, deren Zauber heute weltweit ausstrahlt.

Seitenanzahl: 300
Abbildungen: 100
Format 19.5 cm x 22.5 cm
Buch, Gebunden
ISBN: 978-3-03810-036-2
Franco Item (Hg.) Verlag NZZ Libro