Jules Spinatsch hatte schon immer ein Gespür für Widersprüche und pflegt ein ambivalentes Verhältnis gegenüber der dokumentierenden Fotografie, indem er oft an Ereignissen und Tatsachen «vorbei» fotografiert. Sich auf die Nebenschauplätze zu konzentrieren, erlaubt ihm, den gängigen visuellen Klischees zu entkommen. Beispielhaft demonstriert dies seine «Berichterstattung» über G8-Gipfeltreffen und über das World Economic Forum. Zwar wurde er als Fotograf zu den globalen Veranstaltungen zugelassen, jedoch wurden ihm solche Restriktionen auferlegt, dass er beschloss genau das Gegenteil des Vorgeschriebenen zu fotografieren, nämlich den ganzen Ausgrenzungsapparat, den solche Anlässe mit sich bringen. more >>
Dabei ortete Jules Spinatsch Zonen «zeitweiligen Unwohlseins» (Temporary Discomfort – so der Titel der Werkgruppe), die im Widerspruch zwischen dem Treffen im Interesse der Weltbevölkerung und dem Ausschluss der öffentlichen Meinung erwachsen. Statt des Ereignisses selbst führte der Künstler die Besetzung des öffentlichen Raumes durch Abschrankungen, Metalldetektoren sowie Wachpersonal vor Augen und fand auf diese Weise aussagekräftigere Bilder, als wenn er Weltwirtschaftsköpfe und Politiker beim Referieren gezeigt hätte.
Auf ähnliche, inhaltlich jedoch anders gelagerte Brennpunkte verweist er beim harmloseren Thema Wintersport, welches er ebenfalls anhand des infrastrukturellen Aufwands, den es benötigt, um den Wirtschaftszweig am Laufen zu halten, analysiert. Wie sich zeigt, wird der enorme Aufwand nur von der Grösse der Wunschprojektionen, die mit Winter, Sport und Schnee verbunden sind, übertroffen. Diese erreichen mythische Dimensionen, die gar nie erfüllt werden können, dafür umso geschickter von der Tourismuswerbung als stetes Versprechen genutzt werden. Die uneinlösbaren Zusicherungen, die andauernd von neuem die Sehnsucht nähren, erweisen sich dabei als genauso grosser Selbstläufer wie das schlechte Gewissen, das den Konsumenten plagt. Dieser ahnt, dass sein Anspruch auf Schnee, Sonne und Spass fortwährend noch mehr Energie- und Landressourcen frisst. Doch gnädigerweise weckt eine verschneite Berglandschaft nicht nur Kindheitserinnerungen an ungetrübte Freuden im Schnee, sondern verhüllt zugleich die Verschandelung der Landschaft, die mit der industriellen Auswertung solcher Erwartungen einhergeht.
Jules Spinatschs gross angelegte Studie Snow Management – Wertschöpfung am schiefen Acker (2001–2007) untersucht fasziniert die Bewirtschaftung der Freizeitarena Alpenraum und weicht den gängigen Klischeebildern gekonnt aus: Seien es nun verschämt kaschierte Schneekanonen, monströse Pistenfahrzeuge oder mit Werbeplakaten gespickte Spektakel. Der Fotograf zeigt stets gleichzeitig den Illusionseffekt wie den Apparat dahinter. Er hält das Feuerwerk fest, welches farbige Lichter in der glasklaren Winternacht auf den Schnee zaubert, aber gleichzeitig auch die Verkabelungen; er zeigt uns die regelmässigen Rillen im Schnee einer frisch planierten Piste, aber auch den schmutzigen Matsch nach dem ersten Wärmeeinbruch. Nicht nur zerreisst der Künstler den illusionistischen Schleier über der Maschinerie, sondern er zieht dem Betrachter zuweilen auch den Boden unter den Füssen weg. Etwa wenn sich die 7 × 4 Meter grosse Innenansicht eines Parkhauses, das zur Eiskletterhöhle umfunktioniert wurde, unvermittelt vor dem Betrachter auftürmt. Dann vereinen sich die beinah lebensechten Dimensionen des Motivs mit dem Blick von oben herab in die «Eishöhle» und entfachen einen räumlich-visuellen Taumel, der dem Wahnsinn solcher Veranstaltungen zu entsprechen scheint.
In seiner Video-Doppelprojektion Fuxjagd (2006) dringt er noch weiter hinter die Kulissen vor. Parallel zeigt er eine Fahrt im Pistenfahrzeug nach der letzten Pistenkontrolle, und dazu Schneekanonen bei ihrem nächtlichen Einsatz. Die wacklige Fahrt in der beleuchteten Kabine des Pistenfahrzeuges, in dem ständig das Radio läuft, könnte genauso gut ein Tauchgang in der Tiefsee sein: so fremd sind die Regionen, in die das Gefährt vorstösst, und so bizarr wirkt die planierte Landschaft, dass selbst ein zufällig auftauchender Fuchs, wie eine ausserirdische Erscheinung anmutet. Und so wird die eigentliche Leistung des Künstlers sichtbar, die darin besteht, dass er trotz der enthüllenden Geste seiner Bilder einer neuen Poesie auf der Spur ist – einer Poesie, bei der man zu hoffen beginnt, dass sie die Künstlichkeit unserer Lebenswelt mit der vormals beschworenen Unberührtheit der Landschaft ein Stück weit aussöhnt und in einem neuen Schönheitsbegriff zusammenführt.