Planetary Upgrade Lounge
28. August bis 18. Dezember 2021
Kuratiert von Lori Hersberger
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Werkpreis der Telos Stiftung
Jules Spinatsch ist der Träger des Werkpreises der Telos Stiftung 2021. In einem stillen Auswahlverfahren wurde der in Zürich lebende Künstler von der Kunstkommission der Telos Stiftung gewählt. Der Künstler überzeugte die Kommission mit seiner Arbeit «Applied Landscape Scene D13» aus der Werkgruppe «Snow Management Complex, die im letzten Jahr in der Kunsthalle 8000 ausgestellt wurde. Wir haben uns entschieden, dieses Werk in unsere Sammlung aufzunehmen.
Der Künstler
Jules Spinatsch (*1964) wurde in Davos geboren und ist ein international anerkannter Künstler der vorwiegend mit Fotografie arbeitet. Er verfolgt eine konzeptuell dokumentarische Herangehensweise, für die er eigne Bilder herstellt, als auch gefundenes Bildmaterial und Video in seine Projekte miteinbezieht. Nach Anfängen in der Reportagefotografie beschäftigte er sich mit Langzeitprojekten für Bücher und Ausstellungen. Bekannt geworden sind vor allem die Werkgruppen Snow Management Complex, Asynchron I – X, und die Surveillance Panoramas Projects, die 2019 unter dem Titel Semiautomatic Photography 2003 – 2020 im Centre de la Photographie CPG in Genf in einer grosse Übersichtsausstellung zusammengefasst wurden.
Mit Temporary Discomfort Chapter I–V, und der Entwicklung einer automatisierten Aufnahmetechnik gelang Jules Spinatsch der internationale Durchbruch.
Das gleichnamige Buch wurde zum 2005 in Arles zum besten Fotografiebuch gewählt, die Arbeit danach unter anderem im Museum of Modern Art in MoMA New York gezeigt und für die Sammlung angekauft. Jetzt schreibt Jules Spinatsch mit der Monographie und den fotografischen Installationen von Davos is a Verb ein neues Kapitel, da sich seit der Finanzkrise 2009 in Davos ein neues Phänomen entwickelt hat.
Nach der Galerie Luciano Fasciati in Chur möchte nun die Kunsthalle 8000 als erste Institution die Arbeit dem Publikum in Zürich zugänglich machen.
Planetary Upgrade Lounge – Installation und Buch
Im Gegensatz zur Installation in Chur, in der die Galerie im Stil einer Messe in thematische Räume unterteilt war, ist die Ausstellung in der Kunsthalle 8000 nun zu einer grosse Lounge mit Entrée verdichtet. Die grossflächigen, mit Fotografien bedruckten Textilien führen labyrintisch ins Innere und laden zur Immersion in ein modellhaft komprimiertes Davos. Davos wird Bild, Bilder werden zu mobilen Skulpturen in Form von thematischen, besitzbaren Bildwürfeln und veränderbaren Sitzgruppen. Am Eingang weist ein Bild als Roll-Up-Banner den Weg und verweist zugleich zur Produktionswelt des Messebaus, der diese Installation entsprint. Das Buch, die Monografie wird hier zum Katalog mit dem gesamten Angebot des Messeauftritts.
Davos und das WEF
Die Ortschaft Davos im Graubünden hat zwei Gesichter. Zum einen ist Davos ein klassischer Wintersportort, zum anderen weltberühmt, weil das World Economic Forum WEF seit 50 Jahren jeden Januar dort stattfindet. Zum WEF treffen sich jeweils bedeutende Politiker, Wirtschaftsführer, Wissenschaftler, Journalisten und gesellschaftliche Akteure, um sich mit dem aktuellen Zustand der Welt und dessen Verbesserung auseinanderzusetzen. So jedenfalls lautet die Zielsetzung der gemeinnützigen Stiftung: „commited to improving the state of the world“. Zwar stehen stets die mächtigsten Politiker der Welt im Zentrum des Interesses, doch kommt der Anwesenheit multinationaler Konzerne grösste Bedeutung zu. Die beteiligten Unternehmen gehören zu den wichtigsten ihrer Branche oder ihres Landes. Ihre Mitgliedschaften und Partnerschaften belaufen sich auf Summen von 60’000 bis 600’000 Franken jährlich. Im Gegenzug liegt für die CEOs der Konzerne durchaus ein Nachtessen mit dem US-Präsidenten oder dem Staatspräsidenten der Volksrepublik China drin. Unter diesen Vorzeichen verändert sich die 10’000 Seelen-Gemeinde nicht nur zum militärisch abgesicherten Hochsicherheitstrakt, sondern auch zu einer Zirkusshow des Kapitalismus, in der zum Beispiel der Fahrradgeschäft «Metz» dem japanischen Bankenriesen Nomura Platz macht oder die Galerie «Mode mit Herz» dem weltweit operierenden Unternehmensberatungs-Dienstleister Accenture. Begleitet von einer gewaltigen Entourage an Menschen wird die 3 km lange Promenade von Davos jedes Jahr während 5 Tagen beinahe bis zur Unkenntlichkeit verfremdet. Von dieser invasiven Parallelwelt, die weder vom WEF noch von der Gemeinde Davos organisiert wird, sondern sich kollateral, symbiotisch bis schmarotzerisch, selbst konstituiert, davon handelt Davos is a Verb.
Verbum temporale
Jules Spinatsch hat sich dieser Verfremdung in seiner breit angelegten fotografischen Arbeit gewidmet. Da er selbst aus Davos stammt, kennt er jedes Lädeli und jedes Beizli der Ortschaft und kann die Transformationen detailliert beurteilen und einordnen. Der Titel «Davos Is A Verb» thematisiert dabei das Prozesshafte (Verb = Tätigkeitswort) und die zeitliche Ebene (lat. «verbum temporale = zeitliches Wort») der Aneignung. Dementsprechend geht es Spinatsch nicht nur um ein Vorher-Nachher, sondern um Evolutionen, Entwicklungsstadien und Verfremdungen öffentlicher und halböffentlicher Räume. Da erscheinen etwa ganze Strassenzüge kulissenhaft überhöht, als befänden wir uns in einer Filmstadt. Meist jedoch sind die Grundstrukturen des «alten» Davos unter den neuen Oberflächen klar erkennbar. Dadurch entstehen Bilder einer marktkapitalistischen Dystopie, in der ganze Strassenzüge sich voller Logos, kräftiger Farben und neuen Beleuchtungen präsentieren. Andere Fotografien zeigen die Nebengassen oder die Interieurs, die nur halb umgemodelt wurden. Das Janusartige zeigt sich oft auch in den Bildern von Menschen und ihren Spiegelungen im Glas – und nicht zuletzt erzählt jedes Bild seine Geschichte. Manchmal hochsymbolisch, wenn etwa zwei Arbeiter schwere Holzbalken just so in die Höhe heben, dass die Balken für sekundenbruchteile ein Kreuz formen.
Palimpsest
Unter der neuen WEF-Davos-Schicht schimmert immer wieder das alte Davos durch. So kann die aussergewöhnliche Welt nur im Dasein der alltäglichen erscheinen. Das künstlerische Verfahren von Davos Is A Verb ist demnach das Palimpsest, eine Denkfigur, die in der poststrukturalistischen Theorie zu erneuter Blüte gekommen ist. Adäquat beschreiben lässt das Palimpsest in Bezug auf Spinatschs Werk allerdings über die Restaurierung von Wandmalerei: Hier bezeichnen Palimpseste diejenigen Stellen, in denen Putz- und Malschichten unter einer bestehenden Wandmalerei erhalten geblieben sind. Der Fotograf zeigt uns im Neuen auch das Vorhergewesene, das nach 5 Tagen WEF wieder zum (alten) Neuen wird. Beide Zeitebenen sind in Davos ständig präsent. Jede der Fotografien erzählt eine Geschichte voller Implikationen und vielfältiger Bedeutungsebenen.
Und hinter den grossen hängenden Gesten, versteckt oder fast, finden sich kleine Rückzugsgebiete der Davoser.