Halbautomat – semiautomatic photography, 2013

Halbautomat – semiautomatic photography

With collateral booklet Halbautomat
16 pages, 29,7 x 21 cm
Text „L’Eclat c’est moi“ by Christoph Doswald
Translation by Simon Thomas

Download collateral booklet, including translation

Christoph Doswald

L’ECLAT C’EST MOI

Jules Spinatsch isländische Skandalforschung. Der Künstler Jules Spinatsch operiert meist mit dem Medium Fotografie, das er immer wieder auch in räumliche Gesamtinstallationen integriert. In der 5. Einzelausstellung, die Spinatsch für die Churer Galerie Luciano Fasciati konzipiert hat, ist nun ein Ensemble zu sehen, das zwar aus Einzel­werken besteht, in der Gesamtheit aber dem langjährigen Untersuchungsgegenstand der Bildforschung und Bildbefragung gewidmet ist. more >>

Jules Spinatsch begann seine Karriere als Reportagefotograf. Im Zusammenhang mit dieser journalistischen Erfahrung entwickelte er ein kritisches Verhältnis zum fotografischen Abbild der Wirklichkeit, das vorgibt, eine objektivierende Qualität zu besitzen. Denn ­Spinatsch weiss ganz genau, dass die Bilder nur die halbe Wahrheit erzählen, dass sie instru­mentalisiert und verfremdet werden und nur einen Ausschnitt der Welt abzubilden in der Lage sind – genau jenen Ausschnitt, den der Autor oder der Operateur einer Bildmaschine der Öffentlichkeit präsentieren will.
Aus dem Archiv einer Fotoagentur stammt beispielsweise das Bild einer ­„Bloodhound“, einer Boden-Luft-Rakete, welche Anfang der 1960er Jahren von der Schweizer Armee als geheime Verschlusssache behandelt wurde – und dann doch ans Licht kam weil die Militärbeamten bei der Rekognoszierung von möglichen Standorten auffällig wurden. Spinatsch zeigt dem Betrachter nicht das durch den Medienskandal bekannt gewordene Kriegsgerät, sondern führt die hinter dem Foto platzierte Bildlegende vor. Diese Bildlegende ist vom Künstler mit einigen Papierfragmenten lose in einen Bilderrahmen eingeschlossen worden, der von den Ausstellungsbesuchern in die Hand genommen und nach eigenem Gusto bewegt werden kann. Infolge dieser subjektiven Manipulationen entstehen jedes Mal neue Relationen zwischen dem Text und dem (unsichtbaren) Bild. Es gehe ihm dabei, so der Künstler, um die „Hinterfragung des Deutungsbefehls durch die Bildlegende“.
Spinatsch benutzt für seine vielschichtigen und immer medienreflexiven Installationen und Tableaux denn auch die ganze Bandbreite der möglichen Bildquellen: vorgefundene Fotos, autorenschaftliche Bilder, autobiografische Sujets und maschinell entstandenes Material. Die Churer Ausstellung trägt den Titel Halbautomat und referiert damit auch auf eine besondere Kategorie von Bildern, auf die der Künstler besonders gerne zurückgreift: Fotos, die im Rahmen eines eng gesteckten konzeptuellen Rahmens entstehen – eine ­wohldosierte Balance von kalkulierter Autorenschaft und maschinellem Zufall. Seine grossformatigen Panoramen basieren auf dieser Technik; der Künstler lässt sie durch eine programmierten Kameras erstellen, welche die Räume oder Landschaften mit Einzelbildern dokumentiert, die dann am Computer zu einer grossformatigen Gesamtdarstellung spaltenweise und chronologisch montiert werden. In der Churer Ausstellung sind die zwei neusten Beispiele des Werkzyklus ausgestellt: Asynchronous III – The Missing 20 Minutes zeigt ein Panorama des unbenutzten Reaktors im österreichischen Zwentendorf; Sinkende Werte dokumentiert spekulativ die 88-minütige Umbauphase im Schauspielhaus Zürich zwischen den Vorführungen von Schatzinsel nach Stevenson und Sale, dem Händelprojekt des Regisseur Christoph Marthaler mittels einer Kamera, die alle 30 Sekunden ein Bild aufnimmt – sich systematisch im Bühnenraum von links oben nach rechts unten vorarbeitend.
Wenn Jules Spinatsch die Autorenschaft an eine steuerbare Kamera, also an eine auto­matisch agierende Bildmaschine delegiert, dann ist das auch ein Statement für eine Objektivierung von Bilddokumenten – eine Objektivierung, die alleine schon mit der Masse der produzierten Sujets herbeigeführt wird. Pro Minute entstanden z. B. für das Panorama des Wiener Opernballs 36 Einzelbilder. So zeigen 10008 Bilder das Gebäude, die Dekora­tionen, die Ballgäste, die Prominenten, die Adabeis, das Personal. Alles wird mit der gleichen maschinellen Sachlichkeit dokumentiert. Und doch ist das Objektivierende ein Trugschluss. Denn die Betrachter sind ob der schieren Masse an Bildinformationen nicht in der Lage, die Gesamtheit all dieser unendlich vielen Details zu erfassen und zu verarbeiten. Big data lässt grüssen.
Jules Spinatsch hat keinen „moment décisif“, keinen entscheidenden Augenblick ­mit­zuteilen, wie ihn Henri Cartier-Bresson einst als Paradigma für das gute fotografische Bild postulierte. Als konzeptuellen Gegenentwurf initiiert Spinatsch eine lange Reise mit der ­Kamera, eine Fahrt in genau determinierten horizontalen und vertikalen Bewegungsschritten. Das Resultat ist eine widersprüchliche Kombination von Planung und Zufall, Überraschung und Erwartungen, dessen Rezeption an die Betrachter delegiert wird. Noch pointier­ter zeigt sich diese Strategie des Delegierens künstlerischer Arbeit beim Projekt mit dem Titel ­Hasardeur: Während der Vorbereitung zur Ausstellung in der Galerie Luciano Fasciati hat Spinatsch mit seiner steuerbaren Kamera 600 Bilder im eigenen Atelier aufgenommen: Fragmente von Werken, Details des Studios oder auch des 1:10 Modells der Galerie selbst. Alle diese Bilder, die gewissermassen den Prozess der Ausstellungsgenese dokumentieren, hat er dem Galeristen übergeben – verbunden mit dem Auftrag, das Format, die Auswahl und die Hängung der Bilder aus seiner eigenen Perspektive vorzunehmen.
Sein aktuelles Rechercheprojekt trägt den Titel Tableau d’Eclats. Gezeigt wird eine Anordnung kreisrunder Schwarz-Weiss-Fotografien, die den Anschein erwecken, gewaltige Explosionen zu dokumentieren: Bombeneinschläge, Vulkaneruptionen oder die Kollision ­extraterrestrischer Energiefelder. Abstrakt und konkret zugleich, lassen die ­Abbildungen viele Spekulationen und Interpretationen zu, vor allem auch im Kunst-Kontext, der in surrea­listischen Formen und Skulpturen offenkundige Entsprechungen hat. Die Auflösung verortet sich im Zwischenbereich all dieser Wahrnehmungspotenziale: Die Bilder sind in Island entstanden, wo vulkanische Energiefelder an die Erdoberfläche treten und in schlammigen Teichen blubbernde, energiegeladene Transformationen produzieren.
Medienreflexion kommt auch hier ins Spiel, wenn der Künstler bei seinen assoziativen Recherchen entdeckt, dass es gewissermassen eine eigenständige Eclat-Theorie gibt, die in Form des Buches L’Eclat c’est moi Eingang in die Publizistik gefunden hat. Helmut Mosers 1989 erschienene „Notizen zu Stand und Begriffen der Skandalforschung“, wie es im Untertitel heisst, befassen sich mit den medialen Mechanismen der „Skandalabfuhr“. Nach Moser lauten die verschiedenen Stadien der Eskalation: „Enthüllung, Veröffentlichung, Angriff und Verteidigung, Dramatisierung, Etikettierung, Statusdegradierung“. Als Spinatsch seine 112 Eklat-Bilder nach formalen Prinzipien in sieben Entwicklungsstufen ordnet, entdeckte er die Analogie von Skandaltheorie und dem formalen Spannungsaufbau, der beim Platzen von vulkanisch heissen Schlamm­blasen entsteht. Die isländischen Blubber-Fotos bilden so in ihrer formalen Eskalation die unerbittliche Dynamik des Medienskandals nach – und zwar buchstäblich in allen vier Dimensionen: in der flachen Medien-Wirklichkeit, in der mentalen Verletzung und in der zeitlichen Wirkungskraft, deren Halbwertszeit im Kontext der Spektakelgesellschaft zum Glück für die Betroffenen immer geringer wird.

Christoph Doswald, Translation: Simon Thomas

L’ECLAT C’EST MOI

Jules Spinatsch’s Icelandic scandal research. The artist Jules Spinatsch usually works with the medium of photography, often also integrating it into comprehensive spatial installations. In the 5th solo exhibition that Spinatsch has devised for Galerie Luciano Fasciati in Chur, an ensemble can now be seen, which despite being made up of individual works, is dedicated, in its entirety, to the long-standing object of study in visual research and visual interrogation.
Jules Spinatsch began his career as a photojournalist. In connection with this journalistic experience, he developed a sceptical relationship with the photographic depiction of reality that purports to possess an objectifying quality. This is because Spinatsch knows very well that the images only reveal half of the truth, that they are exploited and defamiliarised, and that they can only depict a snippet of the world: precisely the snippet that the author or the operator of an image machine wants to present to the public.
From a photography agency’s archive, for example, comes the image of a „Bloodhound“, a surface-to-air missile, which was handled as a secret classified matter by the Swiss Army at the start of the 1960s but then came to light anyway because the military officials conducting reconnaissance for possible sites became conspicuous. Rather than showing the observer the piece of military equipment made famous by the media scandal, Spinatsch presents the caption placed behind the photo. The artist has loosely enclosed this caption within a picture frame with a number of paper fragments that the exhibition’s visitors can pick up and move according to taste. Each time, these subjective manipulations give rise to new relationships between the text and the (invisible) image. Here, the artist says that he is concerned with „examination of the interpretation command via the caption“.
For his multilayered and always media-reflexive installations and tableaus, Spinatsch also uses the entire spectrum of possible image sources: found photos, authorship-related images, autobiographical subjects and machinemade material. The exhibition in Chur is entitled Halbautomat (Semiautomatic Photography) and thus also refers to a special category of images, which the artist is particularly fond of using: photos created within a narrowly defined conceptual framework – a well-regulated balance between calculated authorship and automated chance. His largeformat panoramas are based on this technique: the artist arranges for them to be produced by a programmed camera that documents the spaces or landscapes with individual images, which are then put together on a computer, column by column and chronologically, as a large-format comprehensive representation. In the Chur exhibition, the two latest examples of this cycle of works are on display: Asynchronous III – The Missing 20 Minutes shows a panorama of the unused reactor in Zwentendorf, Austria; Sinkende Werte (Sinking Values) speculatively documents the 88-minute conversion phase at the theatre Schauspielhaus Zürich between the presentation of Stevenson’s Treasure Island and that of Sale, director Christoph Marthaler’s Handel project, by means of a camera that takes a picture every 30 seconds, systematically working its way across the stage area from top left to bottom right.
When Jules Spinatsch delegates authorship to a motion-control camera, i.e. to an automatically operating image machine, it is also a statement for an objectification of documtentary images – an objectification brought about solely via the mass of produced subjects. For the panorama of the Vienna Opera Ball, for instance, 36 individual images were produced per minute. Thus, 10,008 images show the building, the decorations, the ball guests, the celebrities, the in-crowd and the staff. Everything is documented with the same mechanical objectivity, and yet that which objectifies is a fallacy, because due to the sheer mass of visual information, the observers are unable to comprehend and process the entirety of all these endlessly numerous details. Big data says hello.
Jules Spinatsch has no „moment décisif“ to convey, no decisive moment like that which Henri Cartier-Bresson once postulated as a paradigm for the good photographic image. As a conceptual alternative model, Spinatsch initiates a long voyage with the camera, a journey in precisely determined horizontal and vertical steps of motion. The result is a contradictory combination of planning and chance, surprise and expectations, the reception of which is delegated to the observers. This strategy of delegating artistic work is more pointedly evident in the project entitled Hasardeur (Gambler): during the preparations for the Galerie Luciano Fasciati exhibition, Spinatsch took 600 pictures in his own studio with his motion-control camera – fragments of works, details of the studio, or even of the 1:10 model of the gallery itself.
He handed over all of these images (which, to a certain extent, document the process of the exhibition’s genesis) to the gallery owner, along with the task of formatting, selecting and hanging the images according to his own perspective.
His current research project is called Tableau d’Eclats. This shows an arrangement of black-and-white photographs, which appear to document powerful explosions: bomb impacts, volcanic eruptions or the collision of extraterrestrial energy fields. Simultaneously abstract and concrete, the depictions allow many speculations and interpretations, primarily also in an art context that has apparent equivalents in surrealist forms and sculptures. The solution is located in the area between all of these potential perceptions: the pictures were taken in Iceland, where volcanic energy fields emerge at the Earth’s surface and produce bubbling energetic transformations in muddy pools.
Here, media reflection also plays a role when the artist, during his associative research, discovers that there is an independent éclat theory, so to speak, which has found its way into media studies in the form of the book L’Eclat c’est moi. Helmut Moser’s 1989 publication, with the subtitle „Notizen zu Stand und Begriffen der Skandalforschung“ (Notes on the State and Terminology of Scandal Research), addresses the medial mechanisms of „scandal rebuffal“.
According to Moser, the various stages of escalation are as follows: „discovery, publication, attack and defence, dramatisation, labelling, status degradation“. While arranging his 112 éclat images in seven developmental steps according to formal principles, Spinatsch discovered the analogy between scandal theory and the formal build-up of tension that takes place when volcanically hot mud bubbles burst. Thus, in their formal escalation, the Icelandic bubble photos replicate the relentless dynamics of the media scandal – and indeed literally in all four dimensions: in the flat media reality, in the mental trauma and in the impact over time, the half-life of which, fortunately for those affected, is becoming ever shorter in the context of the society of the spectacle.